Ist mit Erziehung alles machbar?


Wie ein Wirbelwind – im Zickzack und mit fliegenden Haaren rennt die 5-jährige Kleinhündin direkt auf den grossen Rüden zu. Ungebremst rempelt sie mit ihrem ganzen Körper seitlich in seine Beine, so dass diese kurz einknicken. Was soll das? Ist die Hündin schlecht erzogen? Sollte die Halterin hier eingreifend korri­gieren? Es gibt viele Möglichkeiten, welche diese anscheinende Respektlosigkeit erklären könnten. Wichtige, oft ungeachtete Puzzleteile bilden die Voraussetzungen auf dem Weg zu einer guten Erziehung.

Text: Ingrid Blum

Was die Hundemutter ihrem Welpen vermittelt, prägt den Hund entscheidend fürs ganze Leben.

Was die Hundemutter ihrem Welpen vermittelt, prägt den Hund entscheidend fürs ganze Leben.

Soziale Kompetenz
Die Erziehung zur sozialen Kompetenz beginnt bereits beim Züchter. Durch seine Wahl der Elterntiere spielt er hier eine entscheidende Rolle. Sozial sichere, umgängliche und tolerante Tiere werden dem Nachwuchs viele ihrer Eigenschaften mitgeben und ihnen während der Aufzucht Entsprechendes beibringen können. Bereits die Zeit vor der Geburt hat grossen Einfluss auf die Welpen und ihr späteres Verhalten. So ist es von bedeutender Wichtigkeit, in welchem Umfeld die Hündin lebt, wie sie gedeckt wurde, welche Nahrung sie zu sich nimmt, welche mentalen Impulse sie bekommt und wie viel Stress sie vor der Geburt erdulden muss resp. wie viel Ruhe sie hat. Ob sie Einzelhündin ist oder im Familienverband lebt, ob andere Hündinnen im Haus gleichzeitig trächtig sind oder gerade Würfe aufziehen und welche Bindung sie zu ihren Menschen hat, sind weitere Faktoren, die auf dem Weg zur Erziehung mitspielen.
    Was macht einen erzogenen Hund aus?
    Sind Hunde, die bellen, buddeln, Leute beschnüffeln, ängstlich sind, knurren, stehlen, sich nicht anfassen lassen, unsauber sind, an der Leine ziehen, jagen, andere Hunde begrüssen wollen, schlecht erzogen? Sind Hunde, die am Bein des Menschen kleben oder hinter ihm hertrotten, ihre Umwelt ausblenden, sich nur auf Befehl versäubern oder nur ihr Spielzeug anstatt andere Hunde sehen, gut erzogen? Es ist unmöglich, auf diese Fragen pauschal eine Antwort zu geben. Sehen wir uns an, was weiter dazugehört, wenn wir von guter oder schlechter Erziehung sprechen.

    Individualdistanz und Frustration
    Ein wichtiges Kapitel ist beispielsweise das Erlernen der Individualdistanz. Eine souveräne Hundemutter wird ihren Welpen verständlich und mit viel Geduld beibringen, wann, wie und in welcher Situation körperliche Nähe in Ordnung ist und wann nicht. Die Welpen werden sich unter optimalen, züchterischen Bedingungen auch in Frustrationstoleranz üben können. Dieser fürs ganze spätere Leben wichtige Lernprozess muss in den ersten Lebenswochen stattfinden, und zwar vermittelt durch die Mutterhündin und den restlichen sozial sicheren Familienverband. Welpen aus kleineren Würfen oder Einzelwelpen müssen weniger Frustration erdulden lernen als Welpen mit vielen Geschwistern, denkt man nur an die Futterquelle resp. die Zitzen(aus)wahl. Es kann sein, dass sich Tiere mit niedriger Frustrationstoleranz später beispielsweise Ressourcen verteidigend, ungeduldig oder eifersüchtig zeigen.

    Rassen, Zucht und Aufgaben
    Je nach Rassezugehörigkeit gibt es wiederum beachtliche Unterschiede bezüglich Individualdistanz. So hält es sich bei den einen mit den Grenzen in Grenzen, d.h. sie sind durch systematische Selektion so gezüchtet, dass sie sehr viel körperliche Nähe nicht nur gerne dulden, sondern auch suchen. Andere Rassen sind eher weniger auf Tuchfühlung aus und betrachten Fremdes gerne aus der Ferne.

    Meistens sind es gerade diese elementaren Eigenschaften, die von uns Menschen erst später erkannt werden und dann aber schwer ins Gewicht fallen. Menschen in der heutigen Zeit suchen ihren Hund meistens nach der Optik aus und weniger danach, wofür die Rasse ursprünglich gezüchtet wurde. Sie glauben, dass dieser süsse Welpe genau bei ihnen durch Er- und Beziehung so werden wird, wie sie sich das wünschen.

    Der eine findet es toll, wenn sein Hund Besucher auf Abstand hält, und der andere verzweifelt daran, dass die Schulfreunde seiner Kinder angebellt oder angeknurrt werden. Der eine findet es lustig, wenn sein Junghund andere Hunde und Menschen anrempelt, der andere lässt seinen Hund nicht mehr mit dem Rüpel spielen.

    Die Zuchtreglemente richten sich meist nach dem ehemaligen Beruf der jeweiligen Hunderasse. Das heisst, wenn man dem Rassestandard gerecht werden will, dürfen aus distanzierten Hunden nicht plötzlich distanzlose werden, aus selbständigen Jägern nicht plötzlich führige Nichtjäger, aus eifrigen Hütern nicht plötzlich teilnahmslose Langsamgeher, aus imposanten Bewachern nicht plötzlich unscheinbare Schläfer auch in der heutigen Zeit nicht. Hunde, die für selbständige Arbeit gezüchtet wurden, gelten als stur und schwer erziehbar. Auch wenn sie heute ihrem ursprünglichen Job nicht mehr nachgehen dürfen oder sollen, schlummern immer noch alle Instinkte und gewollt selektierten Anlagen in heutigen Rassehunden. Vielleicht ist es deshalb so schwierig zu verstehen, dass der Hund XY, der gerade so liebesbedürftig auf dem Sofa gekuschelt hat, eben gerade jetzt den Hasen jagt, weil er für die Hasenjagd gezüchtet wurde (oder auch die Maus nicht verschmäht!). Der Besitzer denkt vielleicht, er habe bei der Erziehung versagt oder der Hund hätte eine schlechte Bindung zu ihm. Andere Rassen, welche mit dem Menschen kooperierten, sind auch heute noch dazu bereit, sich führen zu lassen, sofern sie der Führung auch vertrauen und sie respektieren können.

    Von Anfang an begrenzt
    Hunderassen, die eine grosse Lauffreudigkeit in sich haben, können bei ständigem Leinenzwang, Bewegungsarmut und Unfreiheit krank werden. Trotzdem dürfen lauffreudige Hunde nicht quer durch die Gegend ihre Runden ziehen oder selbständig arbeitende Rassen Löcher bis nach Australien buddeln, geschweige denn Katzen töten. Für das Treiben gezüchtete Hunde dürfen keine Autos oder Jogger jagen. Von den Mischlingen, in welchen zwei oder mehrere Herzen für verschiedene Vorlieben schlagen, ganz zu schweigen. Der Mensch war weiter kreativ, indem er gezielt Einzelgänger und Meute liebende Hunde hervor gebracht hat.

    Was heisst dies aber für die erste Welpenstunde?
    Nun, ein Einzelgänger möchte vielleicht eher hinter Halters Hosenbeinen hervorblinzeln, während der Meute liebende Welpe sich ins Geschehen wirft. Der Einzelgänger oder auch der Welpe, welcher mehr Individualdistanz braucht, soll sich nun mit denjenigen austauschen, welche distanz- und hemmungsloser sind. Wird etwa ein staunender, auf dem Schuh des Menschen sitzender Welpe beim ersten Spielgruppen-Besuch von einem distanzlosen Kollegen gerempelt oder überrannt, sind die Weichen für das künftige Benehmen gegenüber anderen Hunden vielleicht schon gestellt. Möglicherweise wird der überrannte Träumer später mit lautem Gebell jeden Artgenossen auf Distanz halten wollen oder er flüchtet panisch.

    Und dann sprechen wir noch von den Zwergen und den Riesen. Auch wenn beide sanftmütig, kontaktfreudig und offen sind, besteht doch grosse Verletzungsgefahr für den Kleinen beim Spiel mit dem Riesen.

    Wenn man nun die Kleinen und die Grossen separiert, lernen die Kleinen nicht, dass es Grosse gibt und die Gros­sen lernen nicht, dass sie behutsam mit Kleinen umgehen müssen resp. dass diese Winzlinge auch Hunde sind. Möchte man es doch probieren, weil der Kleine sehr forsch und unerschrocken wirkt, kann eine einzige liebevoll gemeinte «Berührung» des Grossen mit der Pfote den Kleinen bereits flach drücken.

    Im dümmsten Falle hat der Kleine gelernt, dass grosse Vierbeiner Schmerzen verursachen, d.?h. er flüchtet, wenn er einen Riesen sieht, was vielleicht den Riesen dazu animiert, ihn zu verfolgen.
    Zu all den rassespezifischen Eigenheiten kommen auch noch die jeweiligen gesundheitlichen Aspekte dazu.

    Erziehung – ein Puzzle
    Vielleicht wird jetzt besser ersichtlich, was es bedeutet, wenn man von Erziehung spricht. Weder kann man alle Rassen in einen Topf werfen, noch Genetik wegerziehen. Ein Hund, der grös­sere Individualdistanz braucht, läuft nicht gerne direkt am Bein, nur weil der Mensch das so möchte. Dieser Hund schätzt es meistens auch nicht, wenn Menschen direkt auf ihn zugehen und ihn anfassen möchten. Ein ursprünglicher Hund, der seine Energie dosiert einsetzt, ist für gewisse Übungen gar nicht zu begeistern. Beim passionierten Jagdhund platzt oft der Traum vom unkomplizierten Familienbegleithund, der schön brav nebenhertrippelt, da er möglicherweise, kaum von der Leine gelassen, seiner ursprünglichen Aufgabe nachgeht und mit Abwesenheit glänzt.

    Aus Verzweiflung «gebogen»
    Ja, es gibt unsinnige Möglichkeiten, geradezubiegen, was nicht gerade ist, natürlich immer auf Kosten des Hundes. So ist es wohl keine Kunst, den Hund am Halsband herumzuzerren, bis er, aus Angst vor dem nächsten Schmerzimpuls, mitmacht, was der Mensch will. Es ist auch keine Kunst, gewisse Fernbedienungsknöpfe zu betätigen, um beispielsweise ein instinktgesteuertes Jagdverhalten zu stören.

    Solche Methoden zeigen auf, wie menschliche Überforderung in Unfähigkeit mündet und meistens mit Aggressions- und Gesundheitsproblemen beim Hund endet. Unsinnig ist es auch, den Hund bei jeder Gelegenheit mit Futter zu loben oder mit Spielzeug abzulenken.

    Was bedeutet Erziehung überhaupt?
    Erziehung kann bedeuten, dem Hund verschiedene Dinge, die für den Alltag erforderlich sind, beizubringen. Meistens beginnt dies im häuslichen Umfeld, wo gewisse Regeln eingehalten werden sollen. Miteinbeziehen muss man oben genannte Voraussetzungen, man muss also das Management dementsprechend anpassen.

    Wenn der Hund mit Freude lernt, Frustration aushalten kann – z. B. beim Erlernen von Alleinesein –, die Dinge für ihn auch Sinn machen und seine Individualität berücksichtigt wird, verstärkt sich zugleich die Bindung, das Vertrauen zum Menschen. Der Mensch sollte sich inner- und ausserhalb des Hauses verlässlich und konsequent zeigen, also einschätzbar sein.

    Positiver Kontakt mit Artgenossen, welche ihre Sprache gut beherrschen, gibt Sicherheit in der Kommunikation.Wenn Hunde merken, dass sie Schutz durch ihren Menschen erfahren und sich auch auf freundliche Konsequenz mit abgesteckten Grenzen verlassen können, dann gehört dies zu ihrer Erziehung genau wie die innerartliche Kommunikation. Wenn Menschen ihren Hunden Zutrauen und Verständnis schenken und Hilfe leisten, wo es Hilfe braucht, dann sprechen wir von Gemeinsamkeit.

    Ist ein guter Schüler auch automatisch sozial verträglich?
    Mit Erziehung, im Sinne von beigebrachten Übungen, ist weder das Wesen noch die Individualität oder Rasse wegzuerziehen. Wenn Hunde und Menschen gemeinsam denselben Weg mit demselben Ziel gehen möchten, sind folgende Voraussetzungen wichtig:
    • Passende Rasse/Mischung fürs jeweilige Umfeld wählen
    • Informationen einholen (Beratung vor dem Kauf)
    • Rassespezifische Eigenheiten kennen (z. B. bellen, jagen, wachen)
    • Rassespezifische Krankheiten kennen (z. B. HD, Epilepsie, Augenkrankheiten etc.)
    • Züchter sorgfältig auswählen (persönlich hingehen und prüfen)
    • Übernahmezeitpunkt richtig wählen (Angstphasen)
    • Eingewöhnungszeit geben
    • Entwicklungsphasen kennen und berücksichtigen
    • Gewaltfreie Hundeausbildung mit individueller Betreuung und umfangreichem Fachwissen wählen
    • Nicht ausprobieren, sondern überlegt handeln
    • Gesundheit in jedem Alter beachten/abchecken lassen
    • Weniger im Alltag ist mehr!

    Grosse Verantwortung tragen Züchter, welche mit viel Liebe, sorgfältiger Auswahl der Elterntiere und sinnvoller Aufzucht ihrer Würfe gute Grundsteine legen. Sie sollten prüfen, ob der gewählte Hund und die Rasse auch zum neuen Menschen passen und ob sich der Vierbeiner dort zum souveränen Hund entwickeln kann. Züchter sollten auch aufklären, dass beispielsweise «kinderlieb» keine Rasseeigenschaft ist, sondern dass durch Sozialisierung, Prägung etc. ein Hund lernen kann, Kinder zu mögen oder eben nicht. Viele Probleme mit unerwünschtem Verhalten des Hundes könnten so verhindert werden. Oft genügen wenige Stunden im neuen, ungeeigneten Heim, um aus wundervoll gezüchteten Hunden traurige, lebenslange Schicksale zu machen.

    ... und was macht der angerempelte Rüde?
    Beim grossen, unkastrierten Rüden handelt es sich um einen sozial kompetenten, in sich ruhenden und frustrationstoleranten sowie gesunden 6-jährigen Hund. Die kleine, sehr folgsame Hündin jedoch kommt schnell an ihre nervlichen Grenzen und versucht den Stress durch Bewegung abzuschütteln. Das üppige Haarkleid schränkt sie in ihrer Wahrnehmung, trotz Haarspange, deutlich ein, was den Zusammenstoss erklären kann.

    Der angerempelte grosse Rüde schüttelt sich, schnüffelt kurz an der kastrierten Hündin und sucht den nächsten Baum auf.

    Quelle: weltdertiere.ch