Brustgeschirr oder Halsband – eine Glaubensfrage?

Hunde können mit ungeahnten Kräften ziehen! Aus unterschiedlichen Gründen drängen Hunde in die Leine oder der Mensch zieht den Vierbeiner zurück. Das war früher so und ist es auch heute noch. Daher ist es sinnvoll, sich über die Ausrüstung grundlegende Gedanken zu machen, denn die Ausrüstung «läuft» täglich mit und hat Auswirkungen auf die Gesundheit sowie auf das Verhalten des Hundes.


Text: Ingrid Blum

Brustgeschirr

«Fuss jetzt!» zischt die Frau und holt den Hund per Leinenruck an ihr Bein zurück. Ich sehe den beiden nach. Der Hund läuft mit krummem Rücken, versucht Abstand zu erzeugen, aber schon der nächste Ruck führt ihn wieder zum Bein. Die Szene erinnert mich an eine «Ausbildungswoche für Gruppenführer», die ich 1998 bei einem damals sehr bekannten Kynologen absolvierte. Der Hund hatte an der linken Seite zu gehen, jede Richtungsänderung parallel zum Hundeführer mitzumachen, beim Anhalten musste er sich sofort setzen. Die Belohnung: Der Würge-Druck wurde mittels entspannter Leine vom Hals genommen.

Gesundheitliche Auswirkungen

Halsband: An der Halsregion befinden sich wichtige Organe. Durch ein Halsband wirken die Kräfte beim Ziehen auf eine kleine Fläche konzentriert ein. Dies führt zu Schäden an den Halsgefässen, am Kehlkopf, an der Luftröhre, an der Schilddrüse, am Bindegewebe, welches den gesamten Körper vernetzt. Nerven, Gefässe und Lymphbahnen werden vom Bindegewebe umhüllt. Wenn der unangenehme Reiz eine Spannungserhöhung bewirkt, kommt es zu einer Verschlechterung der Blutzirkulation und des Lymphenflusses, was zu Entzündungen führen kann. Hunde, die ständig am Halsband ziehen, leiden fast immer an einer chronischen Entzündung der oberen Luftröhre und des Kehlkopfes. Gefährdet ist auch der empfindliche Bereich des Zungenbeins, der über die Muskulatur mit dem Kehlkopf, Unterkiefer und dem Brustbein verbunden ist. Durch den Zug kann sich auch der Augendruck erhöhen, was für Hunde, die zu Glaukom und grauem Star neigen, fatale Folgen haben kann. Die empfindliche Halswirbelsäule wird beim Rucken seitlich beschleunigt, was zu Schwindel, Übelkeit, Sehstörungen und Kopfschmerzen bis hin zum Schleudertrauma führen kann. Je dünner das Halsband ist, an welchem geruckt wird, desto schmerzvoller und gesundheitsschädigender wirkt es sich aus.

Brustgeschirr: Wichtigster Aspekt ist, dass sich der Hund im Brustgeschirr anatomisch richtig bewegen kann. Die Vordergliedmassen samt den Schulterblättern müssen ungehindert die natürliche Fortbewegung ausüben können. Brustgeschirre, welche die Schulterpartie umschliessen und somit einengen können oder daran herumschlottern, sind hinderlich bis schädigend gerade in der Wachstumsphase. Sie können Schäden am Skelett zur Folge haben. Schlecht sitzende Geschirre, die zu nahe am Vorderbein bei der Achsel schliessen, beeinträchtigen die Bewegung und können zu Fehlbelastungen führen und scheuern dazu unangenehm. Das individuell auf den Körper angepasste Brustgeschirr ist aus weichem bequemem Material gefertigt, mit abgerundeten, an den Körper angepassten Schnallen. Es rutscht nicht, ist für die Wirbelsäule entlastend, bietet Geborgenheit, würgt nicht am Hals, drückt nicht auf das Brustbein und auf die Schulterblätter, schränkt den Bewegungsapparat (auch zwischen den Vorderbeinen) nicht ein und scheuert nirgends. Damit ein bequemes Anlegen möglich ist, sollte das Geschirr an allen Enden zu öffnen sein. Die Länge sollte etwa Mitte Brustkorb enden.

Ein perfekt sitzendes, gesundheitsschonendes Brustgeschirr ist niemals als «Erziehungsgeschirr» gekennzeichnet, welches den Hund durch oftmals dünne Schnurbänder in der Bewegung einschränkt und durch Zug Schmerzen oder sogar Schnittwunden verursacht.

Einfluss auf das Verhalten

Hunde lernen über Assoziation. Sie verknüpfen Situationen mit ihren dazu unwillentlich durchlebten Emotionen. Beispiel: Der junge Hund sieht einen Artgenossen auf der anderen Strassenseite und möchte zu ihm hin. Trägt er ein Halsband, wird ihm der Ruck des Hundeführers, der ihn von der Strasse fern halten möchte, Schmerzen verursachen. Der junge Hund empfindet dies als unangenehm. Passiert diese Situation in ähnlicher Form immer wieder, kann der Hund die Verknüpfung herstellen, dass andere Hunde in Sichtnähe Schmerzen verursachen. Er wird also schlechte Emotionen mit anderen Hunden in Verbindung bringen, wenn er an der Leine ist.

Trägt der junge Hund in der gleichen Situation ein richtig sitzendes Brustgeschirr, wird er wahrscheinlich durch das Zurückhalten seines Hundeführers Frustration empfinden, weil er nicht zum anderen Hund hin darf, erfährt aber keinen Schmerz bei dessen Anblick.

Hunde, die am Halsband ziehen oder gezogen werden, verändern stark ihre Körpersprache. Sie können so auf Artgenossen bedrohlich wirken.

Soziale Empfangsstation

Den Halsbereich des Hundes bezeichnen viele Kynologen als wichtige Empfangsstation für soziale Zuwendung. Die Seiten des Halses dienen dem Kontakt mit Freunden in vertrauensvollem Umgang. Als Bereich der Einordnung bezeichnet man Nacken und Kehle. Läuft der Hund am Halsband, besteht die Gefahr, dass der Mensch ihm durch die Leine ständig falsche Informationen erteilt.

Auslandhunde

Viele Hunde, die aus dem Auslandstierschutz stammen, laufen an Halsband und Leine fast problemlos. Sieht man genauer hin, kann man oft feststellen, dass diese Tiere zwar sehr ruhig gehen, aber der ganze Körper angespannt ist. Meist liegt es an ihrer Angst. Begründet ist die Angst mit der traumatischen Erfahrung, dass sie im Ursprungsland mittels Schlinge eingefangen wurden. Ein richtig sitzendes, geeignetes Brustgeschirr bietet diesen Hunden Sicherheit und Halt. Dies stärkt die Bereitschaft zur vertrauensvollen Bindung an den neuen Menschen.

Alte Hunde

Alte Hunde haben oftmals Gleichgewichtsstörungen oder gesundheitliche Beeinträchtigungen im Bewegungsapparat. Sie kippen beim Versäubern oder können Distanzen schlecht einschätzen. Ein bequem sitzendes Brustgeschirr mit Griff, mit dem der Hundehalter ihnen notfalls Sicherheit gibt, kann den Senioren eine wunderbare Hilfe sein und wird dankbar angenommen.

Gedanken zum Schluss

Eine Verhaltensforscherin, welche mit Dingo- und Wolfswelpen arbeitete, sagte mir vor langer Zeit: «Die Dingowelpen zeigen keine grossen Probleme am Halsband, bei den Wolfswelpen habe ich keine Chance, die bewegen sich nur am Geschirr.» Führung hat nichts mit Körperkraft zu tun. Den Hund am Brustgeschirr zu führen, ist zugegebenermassen anspruchsvoll, da man den Hund nicht durch Schmerzeinwirkung gefügig machen kann, sondern durch verständliche Kommunikation Führung beweisen muss.


Quelle: weltdertiere.ch
Ingrid Blum ist dipl. Hundetrainerin nach T. Rugaas und dipl. tierpsychologische Beraterin I.E.T. mit eigener Hundeschule, www.hundeschule-fee.ch.