Leinenaggression – woher sie kommt und was man dagegen tun kann

Von Leinenaggression spricht man dann, wenn sich ein Hund an der Leine aggressiv verhält. Dies kann beim Anblick von Artgenossen oder auch fremden Menschen so aussehen, dass sich der Hund bellend in die Leine wirft und kaum zu halten ist, also sich wie ein Verrückter aufführt. Der gleiche Hund zeigt sich im Freilauf recht gut verträglich gegenüber seinen Artgenossen und fremden Menschen.


Text von: Ingrid Blum

Wenn Mensch und Tier gestresst ist

«Was sollen denn die Leute denken?», ereifert sich die Frau, deren Hund gerade senkrecht auf zwei Beinen wild bellend einen anderen Artgenossen anmacht. Sie hat Angst vor einer Anzeige, worin ihr Hund dann als «aggressiv» abgestempelt würde, dabei sei er doch so ein lieber und verträglicher Hund. Die Szene wirkt in der Tat etwas verstörend auf den ungeübten Betrachter. Ratschläge wie «Sie sollten mal eine Hundeschule besuchen» oder «Der braucht einen Maulkorb» sind einem in solchen Situationen sicher, helfen aber nicht. Der Mensch am Ende der Leine hat bereits genug zu kämpfen. Die Emotionen machen den Spagat zwischen Schamgefühl und Wut.

Erst Kumpel, dann Aggressor

Wie kommt es, dass der gerade noch freundliche «Kumpel-Typ» von gestern sich heute so in Szene wirft? Will er die Herrschaft übernehmen oder den anderen Hund verbeissen? Meist findet die Veränderung mit dem Heranwachsen statt. Hunde haben, wenn sie die Welpenzeit hinter sich lassen, je nach Grösse bereits beeindruckende Kraft an der Leine. Für den Halter bedeutet dies meistens, dass er durch eigenen und fremden Druck genötigt wird zu zeigen, dass er den Hund «im Griff» hat. Für den Hund bedeutet das Zurückgehalten- und Zurechtgewiesenwerden reine Frustration. Gerade durfte er noch mit anderen Hunden spielen oder Kontakt aufnehmen, nun sind Kontakte mit Artgenossen nur noch aus der Ferne praktizierbar. Aus Frustration kann leicht Aggression entstehen und zwar dann, wenn man das Verhalten des Hundes mit Druck und Strafe unterbinden will.

So wird dann mit verschiedenen Methoden geübt, dass der Hund dicht am Bein laufen soll, nur Sichtkontakt zum Menschen erlaubt ist, ein scharfes «Nein» gezischt oder bei Bedarf am speziellen Halsband kräftig geruckt wird. All diese Massnahmen führen zu Fehlverknüpfungen. Dieser entgegenkommende Artgenosse erhält somit den Status «gefährlich», weil Unwohlsein bis Schmerzempfinden bei seinem Anblick verknüpft wird. Er ist also zum Auslöser für aggressives Verhalten geworden. Zwingt man Hunde, nahe am Bein zu laufen, unterschreiten sie ihre eigene Individualdistanz und ebenfalls jene des Menschen. Die meisten Hunde sind aus eigenem Antrieb heraus dazu nicht bereit, weil es nicht ihrer Natur entspricht. Respektvoller Umgang erfordert, dass die Individualdistanz eingehalten wird, bei Hunden wie bei Menschen.

Hunde sind grundsätzlich daran interessiert, mit anderen Artgenossen keinen Streit anzufangen. Deshalb signalisieren sie meistens freundliche Absichten, wenn sie sich einander frei nähern. Dies kann sich durch Bogen laufen, wegsehen, Kopf abwenden, schnüffeln, markieren, hinsetzen oder auch hinlegen und durch weitere Signale äussern. Sind Hunde durch die kurze Leine eingeschränkt, können sie viele dieser Signale nicht mehr zeigen, d.h. die arteigene Kommunikation wird ihnen verunmöglicht.

Gerade Junghunde sind neugierig und möchten wissen, wie der andere riecht, wie eigene Signale beim anderen ankommen und sie sind auch bereit, den anderen herauszufordern, um sich selber besser einzuschätzen. Zeigt sich ein Junghund dann zum ersten Mal von einer ungewohnten Seite, knurrt, macht sich steif und rempelt sein Gegenüber an, wird sofort vom «aggressiven Hund» gesprochen. Der Halter ist verunsichert und von jetzt an sehr vorsichtig bei Begegnungen. Er fängt an, auszuweichen, den Hund «härter» ranzunehmen, mehrere Hundeschulen zu besuchen, Hilfsmittel einzusetzen. Die Angst vor einer Anzeige steigt. Bereits beim Sichten eines fremden Hundes schlägt sich diese Emotion im Stresshormon- Cocktail des Menschen nieder, den der eigene Hund sehr gut riechen und einschätzen kann und daher noch früher mit Abwehr reagiert. Viele Komponenten kommen zusammen, die eine Leinenaggression heranerziehen. Immer ausschlaggebend ist: die Verknüpfung und die daraus resultierende Emotion beim Individuum. Es gibt durchaus Hunde, die bei Begegnungen an der Leine stark zurückgeruckt werden, aber trotz allem immer noch freundlich an der Leine Kontakt machen, wenn man sie lässt. Diese Hunde sind jedoch die Ausnahme, betreffende Halter haben Glück, wissen es aber meistens nicht.

Wird ein junger Hund stets an der Leine daran gehindert, Kontakt aufzunehmen, werden für ihn andere Hunde zum Auslöser von Frust, welcher sich lautstark äussern kann, sozusagen in Bild und Ton: der sich aufbäumende, bellende grosse Hund, der unkontrolliert und bedrohlich auf Mensch und Artgenossen wirken kann. Haben Hunde an der Leine die Erfahrung gemacht, dass sie ungeschützt angegriffen werden, wird die Emotion Angst bedient. Hier wird das Ganze dann fast traumatisch, weil der Halter die Gefahr nicht abwehrt und der Hund nicht flüchten kann. Solche oft hysterischen Hunde werden dann mit Spezialprogrammen konfrontiert, welche ihnen aber weder Sicherheit noch Unversehrtheit bieten.

Was tun?

Um Fehlverknüpfungen vorzubeugen ist die passende, schmerzfreie Ausrüstung elementar. Hunde sollten am richtig sitzenden Brustgeschirr an einer 3-Meter-Leine (ohne Auszug) geführt werden. Sinnvolles Leinenlauf-Training ist wichtig, damit der Mensch zuerst lernt, wie was von der Leine auf den Hund übertragen wird.

Alter, Rasse, Herkunft, Ängstlichkeit, Gesundheitszustand und Erfahrung spielen eine grosse Rolle. Es gibt kein Schema F, wodurch Hunde von Aggressionen befreit werden können. Das Training muss auf die Individualität von Mensch und Hund angepasst werden. Unerwünschte Verhaltensweisen einfach zu verbieten oder zu bestrafen, ist nicht zielführend. Hunde brauchen in einer verzwickten Situation die Möglichkeit, etwas anderes zu tun. Welches die richtige Alternative ist, zeigt der betreffende Hund durch seine Individualität selber. Aggressionsverhalten basiert immer auf Emotionen. Man muss also die Emotionen verändern, was bedingt, dass der Mensch mental souverän führen, schützen und die Umwelt für den Hund angenehm angepasst handeln kann.

Neuer Fokus

Die Dame mit dem «Senkrecht-Starter» konnte durch gezieltes Training die Frustration ihres sonst freundlichen Hundes in alternative Verhaltensweisen umlenken. So wurde aus aufbäumender Wut eine angepasste, friedliche Kommunikation.


Quelle: weltdertiere.ch
Ingrid Blum ist dipl. Hundetrainiern nach T.Rugas und dipl. tierpsychologische Beraterin.